Deine Weisheit sei die Weisheit der grauen Haare, aber dein Herz - dein Herz sei das Herz der unschuldigen Kindheit. (Friedrich Schiller)

Freitag, 23. September 2011

Traumatisierte Kinder - 'Stiftung zum Wohl des Pflegekindes'


Es geht um Kinder …
Auszug aus dem Aufsatz: „Konsequenzen für die Pflegeeltern-Übertragung traumatischer Bindungs- und Beziehungserfahrungen in die Pflegefamilie. Anforderungen an Pflegeeltern und notwendige Unterstützung“

Um welche Kinder mit welchen Erfahrungen in der Herkunftssozialisation es sich bei Pflegekindern in einer Vielzahl handelt, soll die nachfolgende Auflistung typischer Fälle traumatisierter Kinder erziehungsunfähiger Eltern zeigen, wobei zu berücksichtigen ist, daß fremd untergebrachte Kinder auch multiple traumatische Erfahrungen aufweisen können (beispielsweise kann dem sexuellen Mißbrauch durch den Vater in der Familie chronische Vernachlässigung im Säuglingsalter durch die Mutter sowie auch körperliche Gewalt vorausgegangen sein):

Es geht um
  • Kinder, die bereits im Säuglingsalter schwer verwahrlost wurden, die unregelmäßig zu essen und trinken bekamen; die einfach stundenlang weggelegt wurden; mit denen kaum Augenkontakt aufgenommen wurde; mit denen keine dialogischen Mutter-Kind-Beziehungen aufgebaut wurden; die ständig wie ein Fremdkörper gehalten wurden; auf deren Weinen und Schreien beständig nicht oder sogar mit verbaler und manchmal körperlicher Gewalt reagiert wurde; die keine Hilfe erfuhren, ihre Ängste zu regulieren; die sich in einem apathischen Zustand befanden, nicht mehr lächeln konnten und sich wegschliefen; die Hospitalismussymptome zeigten.
  • Kinder, die verbal erniedrigt, manchmal sogar regelrecht terrorisiert wurden; die über Stunden oder über Nächte in ihr Zimmer oder zur Strafe in einen Schrank eingesperrt wurden; die mit heißen oder kalten Duschen gestraft wurden; die angebunden am Stuhl zwangsgefüttert wurden; die beständig mit massivem Drogenkonsum der Eltern konfrontiert waren; die immer wieder verprügelt wurden; denen man drohte, sie aus dem Fenster zu schmeißen, wenn sie nicht aufhören zu schreien; die beständig mit Eltern konfrontiert waren, die unter extremem Alkoholkonsum sich gegenseitig massiv verbal und körperlich attackierten; denen mit einem Messer gedroht wurde; die erleben mußten, daß ihr Geschwister von den Eltern mißhandelt oder manchmal sogar umgebracht wurde; die sogar erleben mußten, wie ein Elternteil den anderen umbrachte; denen man ein Kissen ins Gesicht drückte, weil sie schrien; die beständig in der Nachbarschaft und Verwandtschaft hin-und hergereicht wurden, eine Odyssee von Bezugspersonen und Lebenswelten erlebten und dadurch völlig bindungsgestörte Kinder sind; kleine Kinder, die schon im Säuglings-und Kleinkindalter sexuelle Übergriffe erlebten; kleine Kinder, die immer wieder ohne jeglichen Schutz den Wahnzuständen oder versuchten Suizidhandlungen der Mutter ausgesetzt waren; Säuglinge und Kleinkinder, die Mißhandlungsspuren aufweisen; kleine Kinder die in desolaten Müllhaushalten aufwuchsen, die Wohnung kaum verlassen haben, ärztlich nicht behandelt wurden, eingewachsene Fußnägel, offene Wunden und verfilzte Haare aufwiesen.
  • Kinder, die bei Eltern mit schweren Persönlichkeitsstörungen aufwuchsen und beständig in hoch pathologischen Beziehungsstrukturen lebten (permanentes Polarisieren von Gut und Böse, extreme und nicht nachvollziehbare Stimmungsschwankungen; Aufheben der Generationsschranken, bizarres Agieren) und deren Eltern keinerlei Einsicht in ihre massive psychische Problematik haben oder finden können
  • Kinder, die in Pflegefamilien unter schrecklichen Ängsten leiden („Monster laufen um das Haus und wollen mich und euch totmachen“); die von Angst erfaßt durch die Wohnung laufen und lange nicht zulassen können, daß der Pflegevater das Kinderzimmer betritt; Kinder, die über Jahre von morgens bis abends reden, die Pflegemutter nicht aus den Augen lassen und ständig kontrollieren; Kinder, die ihre Ängste abwehren, indem sie auf pflegeelterliche Reglementierung und auf Frustration mit verbaler und körperlicher Aggression reagieren wie: Anschreien und Schlagen der Pflegeeltern, Zerstören von Sachen, Schlagen von jüngeren Kindern oder Tieren; Kinder, die unter schrecklichen Einschlafängsten und Alpträumen leiden und Angst vor einbrechenden Kinderklauern und Mördern haben; Kinder, die sich mit King Kong, Hitler, Bin Laden identifizieren und die ganze Welt zerstören wollen; Kinder, die keine Kinder mehr sein wollen und profunde Größenphantasien entwickeln; Kinder, die von niemandem mehr Hilfe erwarten und kaum noch Hilfe annehmen können; Kinder, die über Jahre Nahrung stopfen und stopfen; Kinder, die keine Schmerzempfindlichkeit mehr zeigen können und glauben, unverletzbar zu sein; Kinder, die mit phantasierten Personen durch die Gegend laufen; Kinder, die von sich sagen „ich bin ein Stück Scheiße und dürfte gar nicht leben“; Kinder im Vorschulalter, die Suizidgedanken äußern; Kinder, die der Pflegemutter sagen „meine alte Mutter hat mir mein Herz herausgerissen, deshalb lebe ich eigentlich gar nicht“; Kinder, die in Rollenspielen in der Pflegefamilie beständig Mißhandlungsthemen aller Art spielen; Kinder, die Essensvorräte unter dem Bett und in Sofaritzen horten; Kinder, die sich in Konflikten selber schlagen oder in den Schrank sperren.
  • ältere Kinder, die beständig die Nachrichten angstvoll verfolgen „schon wieder wurde ein Kind getötet“; „bald ist Krieg“; Kinder, die vor lauter Angst nicht denken können und nur eingeschränkt schulfähig sind; Kinder, die normale Eltern-Kind-Beziehungen gar nicht mehr aushalten können und manchmal systematisch zerstören müssen; Kinder, die als „tickende Zeitbomben“ erlebt werden.
  • (Klein-)Kinder, die nachts wach liegen und sich nicht melden, weil sie längst die Hoffnung aufgegeben haben, daß jemand kommen und sie trösten könnte; oder sogar Angst haben, daß jemand kommt und sie anbrüllt oder schlägt.
Diese Fallvignetten sind keine „Extremfälle“, sondern Alltag in der Pflegekinderarbeit. Häufig wird Pflegeeltern und Professionellen im Pflegekinderwesen erst durch Wissensvermittlung sowie durch konkrete Besprechung der Biographie des Pflegekindes und des Verlaufes seiner Integration in die Pflegefamilie deutlich, daß es sich um ein traumatisiertes Kind handelt. Viele Pflegekinder haben traumatische Erfahrungen mit ihren leiblichen Eltern, von denen sie existentiell abhängig waren. Deshalb wurden diese Erfahrungen von den Kindern als existentiell bzw. tödlich bedrohlich erlebt.

Oliver Hardenberg, Münster

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